sabine kullenberg


Landkarten des Lebens


Es beginnt mit einer leeren, lichten Fläche. Der Untergrund ist wie eine Weite, die von Neuschnee verhüllt ist: ein unbesetztes Terrain, das noch beschritten, durchschritten, erkundet werden will. Eines, das dauerhaft im Werden ist, wie das Leben selbst. 2015 entwickelte Sabine Kullenberg ihr künstlerisches Konzept der Tageskarten, das sie seitdem als Langzeit-Work-in-Progress in sich wandelnden Formen fortgesetzt hat. Auf Blättern aus Zeichenbüchern, die sie im weiteren Verlauf zu Faltplänen – Landkarten ihres Lebens – zusammenfügte, hinterließ sie die ersten Spuren ihrer Langzeitwanderung durch das eigene Dasein: regelmäßige handschriftliche Aufzeichnungen eines Tages, in denen sie Erlebtes, Gehörtes, Gesehenes, Gelesenes, Stimmungen, Handlungen und Gedanken festhielt. Diese Wahrnehmungen, Gefühle und Erkenntnisse verdichteten sich in der Anmutung von Mindmaps auf den Papierfeldern zu virtuosen Patterns der persönlichen Existenz in kollektiver gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit. 
Anfangs kombinierte die Künstlerin ihre tagebuchartigen Notationen mit fotografischen, medialen und collagierten Elementen, Zeichnungen und Aquarellen. Sie legte die Blätter palimpsesthaft zu wandfüllenden Arealen übereinander, bevor sie von den Papierbögen auf zunächst ungerahmte, dann auf Keilrahmen gezogene Leinwände überging, auf denen sie ihre Tageschroniken fortführte. Das Übermalen und Überschreiben des Vorhandenen wurde zu einem essenziellen ästhetischen Parameter innerhalb dieses Werkkomplexes, ebenso wie die Begrenzung der Anzahl der zu bearbeitenden Malgründe auf 365: die Tage eines Jahres. Diese Limitierung ist Basis eines Verfahrens, das intuitiv, ergebnisoffen und von ständiger Transformation getragen und durchwirkt ist. Meist ausgehend von weißem, teils auch farbig übermaltem Grund, mit dem jeweils ein neuer Zyklus ihrer Lebensaufzeichnung anhebt, schichtet Kullenberg das jeweilige Tagesgeschehen im Wechsel von Vergegenständlichung und Verdeckung immer weiter übereinander, so dass sich das sukzessiv Erfahrene wie im „wahren Leben“ zu einer vielsträngigen, heterogenen, sich überlagernden Textur verwebt, die das Gewesene ebenso beinhaltet wie den immer wieder neuen Moment, dem alles Künftige entspringt.
Mittlerweile setzt die Künstlerin oft Leinwände in Keilrahmen im Standardformat von 40 mal 40 Zentimetern für die einzelnen Segmente ihrer zwischen Offenbarung und Maskierung, Konkretisierung und Ablösung vom Gegenstand oszillierenden Lebensgeschichte. Deren assoziativ-sinnstiftende Niederschrift und simultane Abstraktion in Farbfeldern, in denen kaum leserlich textliche Bruchstücke wie verbale Arabesken in Tinte hervortreten, kulminiert in vielteiligen Wandbildern aus übereinander platzierten beschrifteten und bemalten Leinwänden und Papieren, die „räumlich wie zeitlich“ für den Augenblick geschaffen sind, wie Kullenberg erläutert: „Es gibt die jeweilige Konstellation nur einmal an diesem Ort und zu dem Zeitpunkt.“ 
Die Momenthaftigkeit, die den immer wieder übermalten Einzelbildern und daraus entstehenden temporären Bildensembles innewohnt, ist ein wesentlicher Impetus dieser Werkgruppe und ein – flüchtiger – Baustein, aus dem Dauer erwächst: eine Verknüpfung von Augenblicken, die den Fluss der Zeit zugleich festhält und freisetzt. Zu den Tagesbild-Konstellationen produzierte die Künstlerin zusätzlich wiederholt kurze Filmsequenzen mit Nachrichtenschnipseln und anderem aktuellen Bild- und Tonmaterial, die das geschichtete Geschehen kommentieren oder konterkarieren. Auch eigene, auf Leinwand geprintete fotografische Aufnahmen fungierten bereits als Untergrund für ihre Schrift-Bilder, so etwa das vergrößerte Foto eines blühenden Rhododendrons im Park, dessen Farbigkeit in leuchtenden Partien durchschlägt, ohne das Motiv sogleich zu erkennen zu geben, das durch Übermalungen zusätzlich verwischt wird. 
Das Ineinandergreifen von Sichtbarmachung und Auslöschung der Zeugnisse zeitlicher Prozesse, die per se ephemer und ungreifbar sind, ist Ausdruck eines ständigen „Jetzt“: ein Zustand akuter Präsenz, der in der Überschreibung und Neuschreibung, Bemalung und Übermalung immer wieder neu generiert wird. Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre: Unermüdlich übertrug die große Hamburger Konzeptkünstlerin Hanne Darboven (1941–2009) das Fließen von Zeit in endlose Folgen von Zahlen und Buchstaben. „Ich beschreibe nicht – ich schreibe“ lautete ihr Credo. Ab 1965 bis zu seinem Tod reihte der französisch-polnische Künstler Roman Opalka (1931–2011) fortlaufende Zahlen in einer Serie immer heller werdender Bilder aneinander, die dem Strom seiner Lebenszeit Gestalt gaben und simultan seine allmähliche physische Auflösung visualisierten. 
Die Arbeit von Opalka hat Sabine Kullenberg tief berührt. Ebenso wie die ab 1966 entstehenden berühmten Date Paintings des japanischen Künstlers On Kawara (1933–2014), der den jeweiligen Tag, den Monat und die Jahreszahl ihrer Herstellung in lakonischen Lettern auf monochromem Grund malerisch fixierte und die eigene Zeitlichkeit auf Postkarten und in anderen Formaten dokumentierte. Wenn Kullenberg in handschriftlichen und malerischen Formgebungen gelebter Tage, die sich über die Eindrücke weiterer Erfahrungsräume legen, ihr Dasein durchschreitet und durchmisst, lässt sie die Zeit für Augenblicke innehalten, bevor sie ihr wieder freien Lauf lässt. Im künstlerischen Wechselspiel von Festhalten und Loslassen, Offenbaren und Entziehen von Information sowie alternierender Wegnahme und intensiver Entfaltung von Farbigkeit manifestieren sich Stimmungsbilder, die im Moment ganze Zeitläufte bündeln und zu bergen vermögen.

Belinda Grace Gardner